Das Ruhrgebiet, eine der am dichtesten besiedelten Regionen Europas und im vergangenen Jahr „Europäische Kulturhauptstadt“, ist ein einzigartiges Konglomerat aus verstädterten Zonen, großmaßstäblichen Infrastrukturen, dörflichen Enklaven und postindustriellen Wildnissen, das mit dem herkömmlichen Verständnis einer Europäischen Stadt nur wenig gemein hat. Der Wirrwarr an Nutzungen und Identitäten, die Vielzahl an Grenzen, Übergangsräumen und blinden Flecken, die versteckten Dichte – ganze Generationen von Ruhrgebietsplanern haben hier in guter Absicht immer wieder „Raumordnung“ zu betreiben versucht. Besonders erfolgreich waren sie nicht: Die eigenwillige Struktur des Ruhrgebiets hat sich als sehr widerständig erwiesen. Es ist vor allem die alte Sehnsucht nach eindeutiger Ordnung, die das Ruhrgebiet als defizitären Raum begreift und dabei verkennt, dass diese Region nach anderen, erstaunlich zeitgemäßen Parametern tickt: Pluralität statt Einheit, Hybridität statt eindeutiger Identität, Brüche statt Kontinuität – sie gelten in den Kulturwissenschaften als grundlegende Merkmale unserer Zeit, der „Moderne nach der Moderne“.
Insofern war und ist das Ruhrgebiet mit seiner fragmentierten, oft als strukturlos empfundenen Stadtlandschaft für viele grundsätzliche Fragen ein dankbares Forschungs- und Experimentierfeld. Das Kulturhauptstadtjahr 2010 hat dies nur zum Teil sichtbar machen können; zu dominant war das Bemühen, die Region als europäische „Metropole“ zu positionieren – ein Begriff, der einmal mehr den Blick auf die tatsächlichen Qualitäten dieses Raums verstellt hat. „Metropole Ruhr“ war eine simple Beschwörungsformel – halb Marketing, halb Ratlosigkeit. Das skurrile Mantra, mit dem der Begriff in 2010 vorgetragen wurde, offenbarte einen besonders verzweifelten Versuch, für die Region und ihre räumliche Eigenlogik einen adäquaten Begriff zu prägen und ein entsprechendes räumliches Verständnis zu entwickeln.
Urban Dingsbums
Die enorme Komplexität des Ruhrgebiets war ein immer wiederkehrendes Grundmotiv auch in „Expeditie RUHR.2010“, einer im vergangenen Jahr von LEGENDA für Erfgoed Nederland organisierten Veranstaltungsreihe aus Exkursionen, Werkstätten, Vorträgen und Debatten. „Expeditie RUHR.2010“ befasste sich dabei nicht nur mit den räumlichen Eigenarten des Ruhrgebiets, sondern identifizierte eine ganze Reihe von Aspekten, die auch in der Raumentwicklung der Niederlanden eine zunehmend wichtige Rolle spielen: das kulturelle Erbe von Infrastrukturräumen, die Neuprogrammierung von Industrie-, Verkehrs- und Einzelhandelsbrachen, das urbanistische Erbe der 1960er und 1970er Jahre, die schrumpfende Stadt, die lokale Selbstorganisation von Stadtentwicklung und Stadterneuerung. Es sind gemeinsame, grenzübergreifende Themen, die selbstverständlich über das Jahr 2010 hinaus Relevanz haben und womöglich nun, nach dem Ende des Kulturhauptstadtjahres im Ruhrgebiet, sogar ernsthafter und konzentrierter bearbeitet werden können. Daher startet nun mit URBAN DINGSBUMS eine neue Reihe zur Erforschung und Interpretation urbanisierter Landschaften. Im jährlichen Rhythmus werden jeweils unterschiedliche Themen, Orte, Formen und Phänomene fragmentierter Landschaften behandelt – mit bewährten und mit neuen, experimentellen Formen räumlicher Exploration. Zentraler Sammlungs-, Reflektions- und Präsentationsort ist der neu geschaffene „Situation Room“ im Duisburger Stadtteil Marxloh.
Stadt der 1000 Dörfer?
Unter den vielen Themen, die sich während der Expeditionen durch das Ruhrgebiet im vergangenen Jahr aufdrängten, war eines besonders hartnäckig: Dörflichkeit. Gemeint sind damit nicht nur ländliche Enklaven im Großstadtdschungel, (überformte) Dorfkerne, Kleinsiedlungen oder die Urban Villages der Immobilienwirtschaft, sondern dieses allgemeine Moment weitgehender Abgeschiedenheit bei gleichzeitig intensiver Raumaneignung und Selbstbeschäftigung, das sich in stark fragmentierten Landschaften besonders gut zu entwickeln scheint. Der ausgeprägte Lokalismus im Ruhrgebiet und anderen großen Ballungsräumen, alte und neue Dimensionen von Dörflichkeit, das neue Paradigma des „Going local“ im viel zitierten Urban Age – dies soll 2011 das Leitthema bei der Erforschung und Vermittlung fragmentierter Landschaften sein.
Programm:
11:00 Tee / Kaffee
11:20 Begrüßung und Einführung
PANEL 1
11:30 Fünf Positionen zum Ruhrgebiet: Hans Jungerius, Arnhem // Mustafa Tazeoglu, Duisburg // Dirk E. Haas, Essen // Boris Sieverts, Köln // Hans Venhuizen, Rotterdam (alle LEGENDA e.V.)
12:15 Expeditie RUHR.2010 – ein Reisebericht: Onno Dirker, Den Haag
12:45 Lunch
EXKURSION
13:30 Konturen des Lokalen: Marxloh // Bruckhausen
PANEL 2
15:30 Das kulturelle Erbe fragmentierter Stadtlandschaften – Vortrag und Diskussion
mit Harro de Jong (Universität Wageningen, Hochschule Breda), Arnhem
PANEL 3
16:30 Der Topos des Dörflichen in Großstädten – Vortrag und Diskussion
mit Christa Kamleithner (Universität der Künste), Berlin
18:30 Drinks und Abendessen
20:15 Überraschungsfilm
ca. 21:45 Ende
Das Kolloquium findet in deutscher und englischer Sprache statt.
Für die Teilnehmer/innen aus den Niederlanden besteht die Möglichkeit, gemeinsam mit einem Bus aus Arnhem anzureisen. Die Rückfahrt nach Arnhem ist für 20:00 Uhr vorgesehen.
Die Teilnehmerzahl ist begrenzt. Anmeldungen werden erbeten unter:
christinebleks@legenda-gesellschaft.org
Teilnehmer/innen aus den Niederlanden geben bei der Anmeldung an, ob sie die Möglichkeit einer gemeinsamen Anreise aus Arnhem in Anspruch nehmen möchten.
Zeit:
12. März 2011, 11:00 – 20:00 Uhr (ab 20:15 Uhr Filmabend)
Veranstalter:
Erfgoed Nederland: Erfgoed Nederland ist das nationale Sektorinstitut der Niederlande für das Kulturerbe. Das Institut setzt sich für Erneuerung und Innovation im Arbeitsgebiet des kulturellen Erbes ein. Dies umfasst Denkmalschutz, Archäologie oder (Landschafts-)Architektur ebenso wie Museen und Archive. Zu diesem Zweck setzt Erfgoed Nederland immer wieder aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen auf die Tagesordnung, organisiert den Erfahrungsaustausch unter Kollegen sowie öffentliche Debatten.
LEGENDA e.V.: Die Gesellschaft für explorative Landeskunde LEGENDA ist eine gemeinnützige Organisation mit Sitz im Ruhrgebiet und beschäftigt sich mit der Erforschung und Interpretation urbanisierter Landschaften. LEGENDA konzipiert und organisiert Debatten, Ausstellungen, Publikationen, Werkstätten, Exkursionen und Studienprogramme.
URBAN DINGSBUMS – Exploring the Heritage of Fragmented Landscapes 12/03/2011